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von Arne Krasting - 17. April 2020

Eine Stadt für die Straßenbahn oder „Der Vergessene“ – Betriebshof Müllerstraße (Best of 75/Nr. 56)

Ampelturm

Der Ampelturm am Potsdamer Platz, errichtet 1924 und gestaltet von Jean Krämer. Dies ist eine Kopie aus den späten 90er Jahren. @Zeitreisen Arne Krasting 2020

Sein bekanntes Bauwerk ist streng genommen gar kein Gebäude. Es ist die erste Verkehrsampel Deutschlands, aufgestellt 1924 am Potsdamer Platz. Verantwortlich: Jean Krämer. Krämer ist einer der produktivsten Architekten der Weimarer Republik, prägt das Stadtbild Berlins in dieser Zeit. Aber er ist auch einer der Unbekanntesten. Ein Vergessener, wie ein Artikel titelt. Unzählige Wohnhäuser, Villen, Fabriken, Sportanlagen gehen auf ihn zurück. Den Ampelturm baut er im Auftrag der Berliner Straßenbahn Betriebs GmbH. Und diese war auch sein Hauptarbeitgeber: Krämer wird ab Mitte der 1920er Jahre der „Hausarchitekt“ für die Straßenbahn.

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Große Aufgaben stehen damals an. Die Gründung von Groß-Berlin zieht den Zusammenschluss verschiedener Straßenbahnunternehmen nach sich. Und statt vieler kleiner Ställe und Wagenhallen muss nun großzügiger gedacht werden. Der richtige Job für Krämer und sein Architekturatelier. Zahlreiche Umbauten und Neubauten realisiert er – hier beschrieben auch der Betriebshof in Charlottenburg. Das größte Projekt ist aber im Wedding. Hier in der Müllerstraße entsteht nicht nur der Betriebshof, sondern es werden etwa 300 Wohnungen für die Arbeiter gebaut. Straßenbahnstadt, so wird der Komplex genannt. Oder auch „Hof Mül“ in der Sprache der Bahner.

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Das Wahrzeichen dieser „Stadt“ sind ihre Türme. 32 Meter hoch sind sie und expressionistisch gestaltet. Auffällig vor allem die prismatische Wandfaltung, die sich bis nach oben zieht. Neben Verwaltungsräumen gab es hier auch Wohnungen. Aber die schönste, die höchste Etage war für etwas Anderes reserviert. Wasser! Hier befanden sich Wassertanks, die für die Waschanlagen der Straßenbahn benötigt werden.

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Faszinierend sind auch Parallelbögen am Fuß der Türme, die wie gotische Portale aussehen. Hier geht es zu dem Kassenraum, wo die Schaffner ihre Abrechnung machten. Und dann war da noch die Schreckenskammer, wie die hauseigene Fahrschule genannt wurde, in der eineinhalb Stunden lang die Entschluss- und Reaktionsgeschwindigkeit sowie die Nervenstärke der Fahranwärter geprüft wurde. Heute heißt das „Verkehrsakademie“ und richtet sich an Omnibusfahrer. Daneben gab es auf dem Gelände natürlich Werkstätten, Schlosserei, Schmiede, Stellmacherei, Geräteräume, Materiallager, Kleiderkammer und sogar ein Straßenbahnmuseum. Ergänzend zur Straßenbahn-Fahrschule sollte dem Personal hier die technische Entwicklung der Straßenbahn veranschaulichen.

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Das Museum existiert wahrscheinlich seit den 50er Jahren nicht mehr, aber einige Exponate sind von dem Technikmuseum übernommen worden. Und auch moderne Straßenbahnen haben hier nichts mehr zu suchen. Mit der Abschaffung der Straßenbahn in West-Berlin wird der Betriebshof für Omnibusse umgebaut, die bis heute hier Zuhause sind.

A propos Zuhause: dahin hatten es viele Angestellte der BVG nicht weit. Um den Betriebshof herum errichtet Krämer einen Blockrand mit Wohnhäusern für die Arbeiter und Angestellten. Die rotbraun verputzen Wohnhäuser sind sehr einheitlich, aber durchraus repräsentativ gestaltet. Viele kleine Details, wie zum Beispiel ornamentale Keramik, schmücken die Fassade. 280 Wohnungen mit Balkonen und ohne dunkle Hinterhöfe, das sollte in Zeiten von Wohnungsnot und Klassenkämpfe doch eine besondere Bindung an den Arbeitgeber erreichen!

Insgesamt ist der Betriebshof einer der wenigen herausragenden Beispiele für expressionistische Architektur in Berlin. Verantwortlich: Jean Krämer, der „Vergessene“. Aber der expressionistische Stil ist nur einer seiner Richtungen. Als „Chamäleon der Architektur“ bezeichnet ihn die Kunsthistorikerin Karen Grunow, die zu Krämer publiziert hat (hier ein spannendes Gespräch zwischen ihr und der Tochter von Krämer). Vielleicht liegt das auch an seinem Arbeitsumfeld bevor er sein eigenes Büro eröffnete. Von 1911 bis 1918 war er Atelierchef Peter Behrens, dem wohl berühmtesten und einflussreichsten Architekten der Zeit. „Behrens und seine 20 Sklaven“, wird diese Ansammlung von späteren Stararchitekten wie Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius und Le Corbusier auch genannt. Und anscheinend hat der den aufbrausenden Charakter von Behrens gut ausgleichen können.

Unter den Nationalsozialismus kommt Jean Krämer als Architekt kaum noch zum Zuge, seine Werke entsprechen nicht mehr dem Zeitgeist. Aber seine Gebäude aus der Weimarer Republik könnten locker eine eigene Top50 Liste füllen.

Geschrieben von Arne Krasting
Arne ist Historiker, der Gründer von Zeitreisen, Autor von dem Buch „Fassadengeflüster“, sowie Tourguide und Podcaster.

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